Die Taube
Daniel Haag-Wackernagel
Vorliegendes Buch schildert die Geschichte der Beziehung zwischen der Taube und dem Menschen mit allen ihren Auswirkungen auf die Gegenwart aus biologischer und kulturgeschichtlicher Sicht. Der Autor versucht dabei, aus der Sicht des Naturwissenschaftlers kulturelle Prozesse verständlich zu machen und zu zeigen, wie sehr diese Erscheinungen auch biologischen Gesetzen unterliegen.
Die Taube ist eines der ältesten und beliebtesten Haustiere des Menschen. Durch diese nahen Kontakte lernte der Mensch die Verhaltenswelt der Taube kennen und schätzen. Überall wo die Taube gehalten wurde spielte sie eine herausragende Rolle als Symbol und Verkörperung menschlicher und göttlicher Eigenschaften. Kein anderes Lebewesen wurde so häufig vergeistigt, vergöttlicht und symbolisiert wie die Taube. Bei fast allen Völkern wurde sie etwa gleich beurteilt und gewertet. Eine Analyse von Biologie und Verhalten der Taube einerseits und den Assoziationen, die sie beim Menschen auslöst, anderseits, bieten eine Erklärung für dieses Phänomen. Ganz bewusst werden kulturelle, theologische und geschichtliche Ereignisse aus dem Blickwinkel des Naturwissenschafters und Verhaltensforschers erklärt.
Die faszinierende Reise der Taube durch Völker und Zeiten beginnt im alten Sumer und Babylonien. Dort wird sie im 3. Jahrtausend vor Christus zum heiligen Vogel der Liebesgöttin Inanna-Ischtar, die mit ihrem Kult den ganzen vorderen Orient erobert. Im Judentum ist die Taube im Glauben und als Haustier von grosser Bedeutung. Im griechischen Raum wird die «Göttin mit der Taube» zur Aphrodite und danach zur Venus der Etrusker und Römer umgewandelt. Die Taube überlebt unbeschadet die Abschaffung ihrer Göttinnen und setzt sich im Christentum als Symbol des Heiligen Geistes durch. Nach und nach verbreitet sich ihre Symbolik über das ganze christliche Denken, in dem sie göttliche und menschliche Ideen und Personen verkörpert. Im Orient, vor allem im arabischen und indischen Raum, erlebt die Taubenhaltung eine nie wieder erreichte Perfektion, was sich auch kulturell niederschlägt. In Mitteleuropa lebt die Taube erst in der Rennaissance in allen ihren antiken Symbolbedeutungen wieder auf, die sich bis heute erhalten konnten.
In den letzten Jahrhunderten war die Taube in Mitteleuropa dann vor allem Haustier, Ziervogel und Lieferant von delikatem Fleisch, das den öden Speisezettel bereicherte. In neuerer Zeit setzte sich die Taubenhaltung immer mehr als Freizeitbeschäftigung durch. Alleine in den letzten 250 Jahren entstanden hunderte von neuen Taubenrassen. In beinahe jedem Dorf wurden spezielle Tauben gezüchtet. Es gibt kaum eine biologische Eigenschaft der Taube, die nicht in der einen oder anderen Form verändert worden wäre. So erschuf der Mensch Tauben, die in der Art ihres Fluges, ihres Balzverhaltens, ihres Aussehens, ihre Vokalisation, ihres Heimfindevermögens oder ihrer Fleischqualität von der Ursprungsform, der Felsentaube, abweichen.
Auch in unserer rationalen und materiell geprägten Gegenwart konnte sich die Taube erfolgreich behaupten. Sie begegnet uns in beinahe allen alten Bedeutungen wieder. So erscheint sie als Symbol des Heiligen Geistes, des Friedens, der geistigen und körperlichen Liebe bis hin zum Emblem des Postdienstes. Heutzutage sind wieder beinahe alle Symbolgehalte präsent, mit denen die Taube während ihrer nun über viertausend Jahre lange dauernden Symbiose mit dem Menschen verbunden wurde. Zudem wird sie heute vielfältig in der Werbung und Verpackung als allgemein verständlicher Repräsentant von verkaufsfördernen Attributen wie Reinheit, Sauberheit und Licht verwendet.
Während der langen Zeit ihrer Domestikation sind immer wieder Tauben entflohen und haben mehr oder weniger grosse Strassentaubenbestände aufgebaut. Erst als Lebensmittel billig wurden und ein Teil unseres Wohlstandes in Form von Futter für die Tauben auf der Strasse landete, konnten sich die Strassentauben weltweit stark vermehren. Angesichts der langen gemeinsamen Geschichte und ihrer vielfältigen geistigen Bedeutung verwundert es nicht, dass die Strassentaube nicht als das gesehen wird, was sie eigentlich ist als ein ungemein anpassungsfähiger, intelligenter und schöner Vogel, der gelernt hat, vom Menschen und mit ihm in der Stadt zu überleben. Die Taube ist aber nur deshalb so erfolgreich, weil der Mensch sie in seiner jahrtausendelangen Domestikation verändert und damit für ein Stadtleben prädisponiert hat. Dieser Überlebenserfolg hat viele Schattenseiten. Die weit verbreitete und beliebte Taubenfütterung hat in vielen Städten eine Überbevölkerung verursacht, die den Tauben schlecht bekommt. Unter Stress, Krankheiten und Parasiten verkommen die Tiere und sind zudem Ursache für verschiedene Probleme, die dem Menschen durch hygienische Gefährdung und Verunreinigungen durch Taubenkot entstehen. Trotz widrigster Lebensbedingungen ist die Strassentaube heute zum erfolgreichsten Tier im menschlichen Lebensraum geworden. Von den meisten Menschen wird sie geliebt, nur von wenigen gehasst und verfolgt. In verschiedenen Städten sind eigentliche Taubenkriege entstanden, in denen sich Taubenfreunde und Taubenfeinde mit erbitterter Entschlossenheit gegenüberstehen. Für die einen sind sie die Kinder des Lichtes, die Verkörperung der Liebe, des Friedens und des Heiligen Geistes, für die anderen fliegendes Ungeziefer und Ratten der Lüfte, die es auszurotten gilt.
Wo und mit welchen Mitteln der Mensch den Kampf gegen die Taube auch aufgenommen hat, er wird ihn nie gewinnen können. In einer seit Jahrtausenden andauernden Domestikation hat er die Taube durch Zucht genetisch manipuliert und nach seinen Vorstellungen geformt. Dadurch ist die Taube dem Menschen ähnlich geworden. Sie beginnt uns zu gleichen, in ihren fortpflanzungsbiologischen Eigenschaften, ihren Slums und ihrem Erfolg.
Vorliegendes Buch über die Taube ist eine interdisziplinäre Arbeit, die sich nur schwer einem bestimmten Fachgebiet zuordnen lässt. Es dürfte für Interessierte der verschiedensten Fachrichtungen wie der Altorientalistik, Altphilologie, Religionsgeschichte, Soziologie, Kunstgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Biologie, vor allem aber der Domestikationsgeschichte und Verhaltensforschung von Interesse sein. Besonderer Wert wurde auf exakte Quellenangabe und vollständige Wiedergabe der zitierten Originalstellen gelegt. Eine grosse Zahl von Texten wurde zu diesem Zweck aus dem Hebräischen, Lateinischen, Griechischen, Französischen und Englischen ins Deutsche übersetzt. Über 340 Abbildungen, darunter viele Erstveröffentlichungen, illustrieren die Inhalte und tragen so zum besseren Verständnis des Buches bei. Das Buch «Die Taube» wurde nicht nur für den Fachwissenschaftler, sondern auch für den interessierten Taubenliebhaber geschrieben. Der Taubenzüchter, der sich mit der Herkunft seines Tieres vertraut machen will, wird genauso auf seine Kosten kommen, wie die Stadtbehörde, die sich mit dem Straßentaubenproblem beschäftigen muss.